Der Ukraine-Krieg hinterlässt nicht nur auf den Schlachtfeldern Spuren, sondern auch in der russischen Gesellschaft. Während die wirtschaftlichen Sanktionen, Verluste an der Front und die wachsende Isolation des Landes die Stimmung belasten, scheint ein langjähriger positiver Trend in Russland nun rückläufig zu sein: Der Alkoholkonsum, der über ein Jahrzehnt hinweg gesunken war, nimmt laut Experten wieder zu.
Ein Jahrzehnt des Fortschritts
Seit den 2000er Jahren hatte Russland bemerkenswerte Fortschritte im Kampf gegen den Alkoholmissbrauch erzielt. Maßnahmen wie höhere Alkoholsteuern, Einschränkungen des Verkaufs und strenge Werbeverbote hatten dazu geführt, dass der Pro-Kopf-Alkoholkonsum bis 2020 um fast 43 Prozent sank, so ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Dieser Rückgang trug auch dazu bei, die Lebenserwartung der russischen Bevölkerung zu steigern und gesundheitliche Probleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren. Es schien, als ob Russland eine der Hauptursachen für die hohe Sterblichkeitsrate im Land erfolgreich bekämpft hätte.
Der Krieg und die Rückkehr des Alkohols
Doch der Krieg in der Ukraine hat diese Fortschritte offenbar gestoppt. Experten berichten, dass der Alkoholkonsum in Russland seit Beginn des Konflikts wieder steigt. Gründe dafür seien die psychologischen Belastungen, die wirtschaftlichen Unsicherheiten und die tiefen gesellschaftlichen Spaltungen, die der Krieg mit sich bringt.
„Die Menschen suchen Trost im Alkohol, um mit der Unsicherheit und den Ängsten umzugehen, die der Krieg verursacht hat“, sagt ein Soziologe aus Moskau, der anonym bleiben möchte.
Die Belastung durch Mobilisierung und Verluste
Besonders stark betroffen sind Familien, die Angehörige an die Front verloren haben oder deren Männer und Söhne mobilisiert wurden. Die Verluste in der Ukraine, die Russland offiziell nicht eingesteht, werden in den betroffenen Familien jedoch stark empfunden.
„Mein Bruder wurde im September mobilisiert, und seitdem trinken wir in der Familie viel mehr. Es ist, als ob der Alkohol der einzige Weg wäre, den Schmerz zu betäuben“, sagt Olga, eine 34-jährige Frau aus Sankt Petersburg.
Wirtschaftlicher Druck und soziale Spannungen
Zusätzlich verschärfen die wirtschaftlichen Folgen des Krieges die Situation. Sanktionen, Inflation und ein unsicherer Arbeitsmarkt setzen viele Menschen unter Druck. In einer Gesellschaft, die traditionell stark auf soziale Netzwerke angewiesen ist, führt die zunehmende Isolation Russlands auch zu einem Gefühl der Entfremdung und Perspektivlosigkeit.
Ein Wirtschaftsexperte aus Nowosibirsk erklärt: „Wenn Menschen sich hilflos fühlen, greifen sie oft auf Alkohol zurück, um ihre Probleme zu vergessen – zumindest vorübergehend.“
Alkohol als kulturelle Flucht
Der Konsum von Alkohol hat in der russischen Geschichte immer eine kulturelle Komponente gehabt. In schwierigen Zeiten wurde er oft als Flucht vor der Realität genutzt. Der Ukraine-Krieg scheint diesen Trend wiederbelebt zu haben.
Zudem berichten Alkoholhändler in Russland von einer steigenden Nachfrage nach billigem Wodka und anderen Spirituosen. Viele kleine Geschäfte, die während der Pandemie um ihre Existenz kämpften, erleben jetzt einen Umsatzboom.
Gesundheits- und Gesellschaftsrisiken
Die Rückkehr des Alkohols birgt ernste gesundheitliche und gesellschaftliche Risiken. Experten warnen, dass ein erneuter Anstieg des Alkoholkonsums die Lebenserwartung senken und die ohnehin überlasteten Gesundheitssysteme weiter unter Druck setzen könnte.
Darüber hinaus könnten die sozialen Spannungen, die der Krieg ohnehin verstärkt hat, durch alkoholbedingte Gewalt und andere Probleme verschärft werden.
Regierung bleibt weitgehend still
Die russische Regierung hat sich bisher kaum zu diesem Thema geäußert. Während sie in der Vergangenheit strenge Maßnahmen gegen den Alkoholmissbrauch durchsetzte, scheint der Fokus der Führung derzeit auf der Kriegsführung und der Kontrolle der öffentlichen Meinung zu liegen.
Einige Kritiker werfen der Regierung sogar vor, bewusst wegzusehen, da Alkohol ein Ventil für die Spannungen in der Bevölkerung bieten könnte.
Eine gefährliche Spirale
Der Anstieg des Alkoholkonsums in Russland ist ein weiteres Beispiel für die weitreichenden Folgen des Ukraine-Kriegs. Die psychologischen, wirtschaftlichen und sozialen Belastungen treiben viele Menschen in eine gefährliche Spirale von Alkoholmissbrauch und Verdrängung.
Langfristig könnte diese Entwicklung die gesellschaftlichen und gesundheitlichen Probleme Russlands verschärfen – und den Preis, den das Land für diesen Konflikt zahlt, weiter erhöhen. Die Frage bleibt, ob die Regierung diesen Trend umkehren wird, oder ob er sich zu einem weiteren Symbol für die Kosten dieses Krieges entwickelt.
